30. Dezember 2024

Zur Psychologie der Kanarienrassen

Zur Psychologie der Kanarienrassen

Kenner sehen mehr

 von Klaus Speicher
in „Der Kanarienfreund“ 07/1995

Für viele Menschen sind alle Vögel gleich. Sie kennen keine Arten und nicht deren Merkmal und Eigenheiten. Bei Vogelfreunden ist das ganz anders. Sie wissen Aussehen, Verhalten, Stimmen und Lieder der Gefiederten zu unterscheiden, freuen sich bei Beobachtungen, Begegnungen, beim Wiedererkennen.

Noch stärker ausgeprägt ist diese Fähigkeit beim Vogelliebhaber. Er hält und pflegt, züchtet womöglich die Arten und Rassen, denen er sich speziell verschrieben hat. Auf den Kanarienfreund bezogen heißt dies, dass er nicht nur vier Rassenkreise oder mehr kennt, vielmehr jeden Kandidaten aus diesen Rassenkreisen erkennen kann und einzuordnen versteht. Ob ihm jeweils der betreffende Vertreter auch gefällt, ist ein ganz anderes Thema. Uber Geschmack sollen wir bekanntlich nicht streiten. Für den „blutigen Laien“ bleibt ein Kanarienvogel ein Kanarienvogel, doch für den Kenner öffnet sich ein Kabinett voll unerschöpflicher Vielfalt an Naturschönheit und Lebendigkeit. Was zu bewerten ist im Züchterwettstreit der Organisationen ist längst nicht alles, was am Vogel zu erleben und zu bewundern ist. Die Musterbeschreibung, der Standard ist die Identifikation eines dreidimensionalen Gebildes, auswahlweise nicht mal in Farbe, das so aussehen soll, wie im Standard verlangt.

Dem Kenner (der Kanarien) bietet das Geschöpf Rasse-Kanarienvogel weit mehr, denn die gelenkte Evolution in Menschenhand hat gezielt Kulturgeschöpfe geschaffen, die sich mit distrikten, das heißt gut unterscheidbaren Eigenarten vorstellen.

Wellensittiche. Symbolfoto dpa

Vögel sind „Augentiere“ wie wir Menschen auch. Der Sehsinn ist Empfangsorgan für über 80 Prozent der Reize, die uns aus der Umwelt erreichen, und die wichtig sind für unser Befinden. Das gilt auch für unsere Vögel, die im Zustande der Domestikation Verhaltensweisen entwickelt haben, die „uns etwas geben“, wie es trivial ausgedrückt werden kann. Mit der Zunahme der Rassen und ihrer spezialisierten Kennerschaft, haben sich Erfahrungen und Wissen auf diesem Gebiet gemehrt.

Während der letzten Jahre haben die Kenner „ihrer Rasse“ enorm zugelegt. Die Spezial-Schauen sind beredtes Zeugnis vom hohen Niveau der Züchtungskunde des Kanarienvogels. Wir alle haben daran Anteil, nicht nur die, die darüber schreiben.

Oft sind die besten Züchter nicht auch noch die besten Schreiber — und umgekehrt. Was dieser Beitrag will, ist die Vertiefung der Kennerschaft um unsere Rassekanarien. Wenn Siegervögel herausgestellt sind, vor allem auf namhaften Großschauen, dann muss ein Champion-Vogel auch von seiner psychischen Qualität her ein Siegertyp sein. Er muss erkennen lassen, dass er in seinem Leben noch etwas will. Er muss Vitalität ausstrahlen.

Ein Scottie, der in seinem Spezialkäfig so gekonnt den „Hopp“ von einer Stange auf die andere ausführt, der Yorkie, der wie eine Modellfigur in Haltung geht, ein Bossu Belge, dessen Winkelstellung den Kenner begeistert, sie sind von eigenem Wesen und wollen „verstanden“ werden. 

Lancashire-Kanarie - eine der ältesten Kanarienrasse

Die große Reihe der Farbschläge will ich nicht ausnehmen, so wenig wie die reinen Formkanarien, ob runde Norwichs oder grazile Razas Españgnol. Wir sind selbstbewusst genug, zu diesem Thema Stellung zu beziehen.

Tierpsychologisch fällt es dann auch nicht schwer, die bewährten Schaukäfige für die einzelnen Rassen zu begründen und zu verteidigen. Hier müssen wir Farbe bekennen und mit einer Meinungsstimme auftreten in ganz Europa. Wozu haben wir die C.O.M., wenn sie nicht die Rolle als „Opinion-Leader“ in der gesellschaftlichen Tagesaktualität einnimmt?

Am Freitag durften bereits einige Schulklassen die Ausstellung besichtigen, während die Preisrichter die Vögel bewerten.| Foto: Stefan Klausing

Es ist höchste Zeit, dass der DKB seine Rolle als Vertreter der Züchter erfüllt und sich einmischt, wenn es um Fragen von Vogelausstellungen, Schaudauer und Schaukäfigen geht. Schuldig wird man nicht nur, wenn man nichts dagegen getan hat. Schuldig ist man schon, wenn durch Nichtstun die Gegner der Vogelliebhaberei die öffentliche Meinung besetzen können und wir zum Reagieren gezwungen werden.

Die Zeiten haben sich gründlich geändert. Nicht der stille Amateur ist „in“, sondern der lautstarke Lamentierer, der bestehende Strukturen angreift und sich selbst ernennt, über das Tun anderer zu richten. Gemeinsamkeit macht stark. Das sollten die Vogelzüchter sehr schnell begreifen und in Taten umsetzen.

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